Rom im Hochsommer. Wir sind hier und haben doch keine Ahnung: von der Geschichte, vom Leben, von irgendwas. Laufen quer durch die Stadt und klappern die Attraktionen ab. Kolosseum, Vatikan – und das Pantheon.
Der Frühstücksraum ist winzig. Ich schmiere mir ein paar Brötchen für unterwegs, was eigentlich verboten ist. Aber die Aufpasserin passt heute nicht gut auf; sie steht hinter dem Vorhang und telefoniert heimlich mit ihrem Liebhaber. (Ihre Schuhe lugen unten hervor.) Nach dem Frühstück machen wir uns auf den Weg zum Pantheon, ich weiß nicht, warum eigentlich.
Ich halte immerhin die Bodenplatten für interessant
Das antike Bauwerk sei «sehr beeindruckend», schreibt der Reiseführer. Ich bin skeptisch, aber für Widerstand zu müde. Also überqueren mein Reisebegleiter et moi1 mehrspurige Straßen – manche Autofahrer bremsen sogar für uns. Ich spüre die gefährliche Hitze der Motoren, diesen heißen Hauch des Todes. Fühlt sich gut an.
Es ist der 19. Juni 2007. Angereist sind wir mit dem Billigflieger, gelandet auf einem ausgedachten Flughafen im Nirgendwo. Flug und Hotel: alles richtig günstig. – Eines Tages will ich so anreisen wie Harrison Ford im Film Frantic. Also im Taxi. Dass dann meine Frau plötzlich verschwindet (usw.), muss aber nicht unbedingt sein.
Wir stehen im Pantheon. «Ein Zylinder mit aufliegender Kuppel», lese ich aus dem Reiseführer vor. – «Worte vermögen nicht zu beschreiben, wie schön das hier ist», säuselt ein älterer Herr verträumt. Seine Augen funkeln. Ich halte immerhin die Bodenplatten für interessant.
Du Rauchloch, Kuppelauge!
Alle anderen Besucher starren in das neun Meter breite Loch in der Decke über unseren Köpfen. Das ist das Opaion, oder auch Rauchloch oder Kuppelauge genannt. Weißes Sonnenlicht fällt ins Innere, alles ist erleuchtet; langsam nervt das. Oben sitzt eine misanthropische Taube und kackt durchs Opaion und den Leuten ins Gesicht. Iiiiiih, schreien sie und es bricht eine milde Panik aus. Alles ist scheiße.
Ob jemand mit einem Taschentuch aushelfen könne. Ich habe zwar eine Tempo-Packung bei mir, wie immer, aber ich will sie mit niemandem teilen. Es kann doch sein, dass ich die selbst noch brauche. Zum Beispiel, wenn mir jemand die Nase bricht: Dann muss ich mein Blut aufwischen.
Die Welt ist ein unfaires, kaltes Chaos
«Sorry, yes?», unterbricht plötzlich jemand. Neben mir stehen zwei kleine Nonnen. Sie wollen, dass ich ihren Camcorder der Marke SONY repariere. «Yes, please», bestätigen sie. Ich bleibe höflich und verweise entschuldigend auf fehlende Fähigkeiten und fehlendes Werkzeug. Ich hoffe auf Verständnis und gebe den beiden Frauen ihren Camcorder wieder zurück. Sie hatten ihn mir energisch in die Hand gedrückt, als wäre sein defekter Zustand meine Schuld. Die Nonnen sind sichtlich enttäuscht von meiner Unfähigkeit. Ich habe ihnen jeden Glauben an mich (und Gott) genommen. Die Welt ist eben ein unfaires, kaltes Chaos. «Sorry», lüge ich. «Have a nice day!»
Es ist tragisch, denn die beiden Frauen können sich das Pantheon nur noch angucken. Doch welchen Sinn hat das schon, wenn es später keine Beweise für ihren Besuch gibt? Welchen Sinn hat das Reisen, wenn es keine Filme und Fotos zu zeigen gibt? Keinen, beschließen die beiden Nonnen und verlassen das Pantheon schnellen Schrittes. Sie wollen einen Elektronikfachhandel aufsuchen, um ein gleichwertiges Ersatzgerät zu erwerben. Doch draußen überfährt sie eine Vespa. Gott ist beleidigt. Ob jemand als Ersthelfer aushelfen könne. Die Bodenplatten finde ich wirklich interessant!
Paris, Louvre: Ich will Mona Lisa in die Augen sehen – doch sie würdigt mich keines Blickes.
Der Morgen in Paris ist grau und feucht. Von unserem kleinen Frühstücksraum aus kann ich sehen, wie die Briefträgerin ihren Handwagen durch den Regen schiebt. Die Straße ist dunkelgrau und glänzt; auf dem feuchten Fußweg spiegeln sich die gelben Lichter der Patisserie. Bäche rauschen den Rinnstein entlang. Das reinste Scheißwetter.
Nach einem ausgedehnten Frühstück fahren wir mit der Metro dahin, wo an einem verregneten Tag alle Touristen hinfahren: zum Louvre, zu Mona Lisa, la Joconde, la Gioconda. Zwischen den zahllosen Leuten stehen wir unter Regenschirmen und warten darauf, dass wir die gläserne Pyramide vom Architekten Ieoh Ming Pei endlich betreten dürfen. Wie einst Tom Hanks.
Flüchtige Blicke
Drinnen ist es trocken, aber auch unglaublich voll, fast überfüllt. Die Masse schiebt und zieht uns durch die Gänge, über Treppen und durch Hallen, immer den Hinweisschildern nach, vorbei an Gemälden von Dicken, von Nackten, von Jesus. Niemand schenkt ihnen mehr als einen flüchtigen Blick, wir wollen schließlich nur eine sehen. Und nach einer halben Stunde kann ich ihr endlich in die Augen schauen. Mona Lisa blinzelt nicht. Sie schaut mich an, egal wo ich stehe, ob links, in der Mitte oder rechts.
Wie im Stripclub gilt auch hier: Nur schauen, nicht anfassen!
Ich bin überrascht, wie kalt mich ihr Anblick lässt. Als ich vor ein paar Jahren in Florenz vor der Geburt der Venus von Sandro Botticelli stand, war das ein ergreifender Moment. Es mag allein an der Größe des Gemäldes gelegen haben, dass es mich nachhaltig beeindruckte. Und an der Nähe: In meiner vagen Erinnerung konnte ich ganz nah heran an die Venus, und betrachtete in Ruhe die feinen Details und die Struktur der Farbe.
Doch hier im Louvre, zwischen all den schwitzenden Möchtegern-Fotografen und genervten Vätern und aufgedrehten Kindern, bleibt keine Zeit für große Gefühle. Ich werde fast erdrückt, weil die Leute nach vorne drängeln, wo das Museumspersonal die wilde Meute einigermaßen im Griff hat. Penibel achten sie darauf, dass niemand der Mona L. zu nahe kommt. Wie im Stripclub gilt auch hier: Nur gucken, nicht anfassen! Nur ein Foto und weiter, bellt die Frau auf Französisch.
Lächeln!
Wir sind wie aufgedrehte Paparazzi, die einen Superstar erspäht haben. Blitzlichter, surrende Videokameras und Mobiltelefone, die so tun, als wären sie Fotoapparate. Ich will Lisa ganz für mich haben, nur sie und ich, nur wir beide. Aber das interessiert sie nicht. Hinter zentimeterdickem Panzerglas lächelt sie jeden an, auch Hansi und Moni, auch Harold und Maude. All jene, die auch nichts Besseres wissen, als ein verwackeltes Bild von Mona Lisa zu machen. Und noch eins und noch eins und noch eins. Andere halten mit dem Camcorder drauf: vierundzwanzig Mona Lisas pro Sekunde.
Keiner hat den Mumm, Mona Lisa mitzunehmen – so wie der Landstreicher Vincenzo Peruggia am 21. August 1911. Er versteckte sich in einem Schrank und ließ sich über Nacht im Louvre einschließen. Er löste das Gemälde aus seinem Rahmen und schmuggelte es am nächsten Tag aus dem Museum in die Freiheit. Peruggia versteckte Mona Lisa in seiner Wohnung, in einem Loch in der Wand, nicht weit vom Louvre entfernt. Er wollte sie zurück nach Italien bringen, so sein Plan, doch in Florenz erwischten sie ihn. Die Polizei nahm ihn fest und ein Gericht verurteilte den Gelegenheitsgauner zu sieben Monaten Haft. Ein mildes Urteil. Das Bild kehrte schließlich 1913 nach Paris zurück und wurde wieder in seinen Rahmen gesperrt, und dann – nach einem Anschlag1 – hinter dickes Panzerglas.
Ein bolivianischer Tourist hatte im Jahr 1956 stundenlang vor dem Gemälde ausgeharrt – und dann einen Stein auf Mona Lisa geschleudert, der sie am Ellenbogen verletzte.
Plötzlich stößt irgendein Vater mich zur Seite, überfährt mich mit dem Kinderwagen, an dem tausend Taschen und Tüten baumeln. Zwei Wachen zerren mich zur Seite; zum Ausgang. Mona Lisa verschwindet aus meinem Blickfeld. Für intimere Momente mit ihr muss ich im Souvenir-Shop wohl ein Mona-Lisa-Poster kaufen. Oder eine Tasse mit ihrem Gesicht. Oder die bedruckte Bettwäsche. Den Mona-Lisa-Schlüsselanhänger, das M.-L.-Mauspad, den Jutebeutel, den Regenschirm, den Kalender, den Handfächer, das Puzzle, das Lineal, das Lesezeichen. Oder das schicke Mona-Lisa-Brillen-Etui. Dann ist sie wirklich mein.
Jerez de la Frontera in Andalusien: Eine Stadt, die berühmt ist für Flamenco und Sherry. Viel los ist hier nicht – aber genau das macht den Charme der Stadt aus.
Jetzt1 in Jerez. In diese Stadt in der Provinz Cádiz kommen Touristen nur, wenn sie Pferde lieben oder ein Faible für Sherry2 haben. Sonst eher nicht. Wir interessieren uns nur oberflächlich für Weißwein und sind trotzdem hier3. Sitzen unter einem beigen Sonnenschirm auf dem Plaza Plateros, schlürfen Kaffee und essen einen klebrigen Kuchen mit Messer und Gabel.
Es ist der 28. Mai 2018, kurz vor 19 Uhr. Hinter uns liegen ein Flug und eine Taxifahrt. Da sind wir nun.
Für Trinker mit Wissensdurst gibt es in Jerez diverse Touren durch Bodegas, wo das Nationalgetränk Andalusiens hergestellt wird. Besucher dürfen natürlich auch probieren, zum Beispiel beim größten Sherry-Produzenten der Welt, bei Gonzáles Byass. (Der Name Sherry leitet sich von Seris oder Xeris ab, dem arabischen Namen der Stadt Jerez. Als die Engländer den Likörwein im 16. Jahrhundert kennenlernten, verbogen sie seinen Namen zu «Sherry».)
In Jerez beginnt nämlich unsere kleine Tour durch Andalusien: Mit dem Zug geht es übermorgen weiter nach Sevilla, anschließend nach Córdoba und schließlich zurück nach Cádiz.
Zwei kleine Hunde liefern sich nebenbei einen wütenden Schlagabtausch und bellen unsere Ohren taub. Es weht ein laues Lüftchen, das sanft durchs Haar streicht. Im Schatten ist es ein bisschen kühl – eigentlich sollte es um diese Zeit viel wärmer sein, fast heiß. Eine drückende Hitze wäre jedoch unangenehm, rede ich mir ein, als ich meine gerupfte Hühnchenhaut betrachte.
Die Menschen treffen sich auf dem Plaza Plateros, diesem schönen Platz in der Altstadt, um in Ruhe zu quatschen. Und es gibt viel zu erzählen, immer, zu jeder Tageszeit. Der Alltag bietet viel Stoff für lange Erläuterungen, Diskussionen und wütende Monologe. Betrunkenes Gestotter vermischt mit gesäuselten Liebesschwüren, unterbrochen durch ein Keifen, ein Geifern, ein lautes Lachen. Ich hingegen habe momentan nichts zu sagen. Da ist eine angenehme Leere in meinem Kopf. Auch mal schön.
Doch als der Kellner kommt, muss ich sprechen und versuche meine Bestellung auf Spanisch: ¡Hola! Un café … con leche. Por favor, sage ich. Der Kellner schaut mich seltsam an. Ich ihn auch. Er trägt ein weißes Hemd, darüber eine schwarze Weste. Er trägt außerdem eine schwarze Hose und einen schwarzen Backenbart. Klassischer Kellner. Nur verstehe ich kein Wort von dem, was er antwortet, nicke aber selbstsicher und bestätige pauschal alles: «Si, si, señior!» Anschließend kann ich wieder gucken und lauschen.
Die entspannte Ruhe, das warme Licht, der blaue Himmel: Das also ist Jerez!
Ich mag die entspannte Ruhe hier, das warme Licht, den blauen Himmel. Ich mag, dass ich als Beobachter einfach zuschauen kann. Ich muss niemanden beeindrucken und muss mir keine Geschichten ausdenken. Ich darf einfach auf dem Stuhl sitzen und alle neuen Eindrücke gierig aufsaugen.
Die Glocken der Iglesia de San Dionisio bimmeln aufgeregt, übertönen spielend die kleinen Hunde, die plötzlich ehrfürchtig Ruhe geben. Sie haben verstanden, dass ihr Bellen jetzt sinnlos ist. Der Kuchen wird mit Messer und Gabel gebracht. Der Kaffee kostet 1,30 Euro und schmeckt köstlich. Das also ist Jerez.
Gelandet sind wir zusammen mit viele Tui-Touristen, die zügig die großen Reisebusse bestiegen, nachdem sie ihre pinken Trolleys vom Gepäckband gewuchtet haben. Jerez war nicht ihr Ziel, sondern irgendwelche Hotelanlagen an der Küste.
Am Taxi-Stand stand kein Mensch. Je näher wir dem historischen Zentrum von Jerez kamen, desto schöner wurde die Stadt und umso enger die Straßen. Der Taxifahrer fuhr selbstsicher und rasant durch die Gassen; er wollte uns vielleicht beeindrucken.
Gebucht haben wir zwei Nächte in der Casa Seven. Nur ist niemand da, der uns einen Zimmerschlüssel geben könnte. Derjenige, der das macht, würde erst später kommen, erklärte ein älterer Herr, der zufällig anwesend war. Wer genau er eigentlich war, blieb unklar; er führte uns zum Plaza Plateros und empfahl uns, in Ruhe einen Kaffee zu trinken und es in einer Stunde erneut zu versuchen. Das war eine gute Idee, wie sich herausstellte.
21:50 Uhr
Abendessen im Meson del Asador. Erst sind wir rein, weil es draußen etwas zu kühl war. Aber drinnen gibt es keine Tapas – drinnen gibts nur teures Essen und große Portionen. Also gehen wir wieder raus, setzen uns an den letzten freien Tisch unter dem dunklen Himmel, bestellen Patatas Bravas, Aioli, Queso Manchego und diverse andere kleine Speisen. Dazu schlürfen wir Tinto de Verano und Cerveza. Wenige Minuten später ist der Tisch voller Köstlichkeiten – das ist das gute Leben.
Am Nebentisch sitzt Steve aus Kanada mit seiner spanischen Geliebten. Er trägt einen schwarzen Schnauzbart, sie ein weinrotes Sommerkleid. Gerade so hat Steve sein Filmstudium beendet, jetzt driftet er ein bisschen durch die Welt. (Seine Freundin studiert derweil Medizin in Toronto.) Steve hält ein Referat über Filme und raucht dabei. Die Geliebte interessiert sich für seinen Monolog nicht, aber das kriegt Steve nicht mit, weil er so euphorisch erzählt, doziert, berichtet. Es geht um Jurassic Park und Steven Spielberg. Die Gedanken fliegen davon.
Um kurz vor Mitternacht kommt die Müllabfuhr. Es ist ein Höllenkrach. Schlafen kann ich aber sowieso nicht: Der Nachbar schnarcht so laut, dass auch unsere Wände wackeln.
Dienstag, 29. Mai
Der erste späte Morgen in Andalusien. Die Sonne scheint uns in die Augen und ein Fischgeruch steigt in unsere Nasen. Wir sitzen in der Café-Bar La Perla (3,3 Sterne bei Google), auf dem Plaza Esteve, gegenüber der Markthalle (4,4 Sterne). Heute ist Dienstag, überall laufen Menschen herum. Einerseits in Eile, andererseits auch entspannt, zum Beispiel dann, wenn Carla ihren Nachbarn trifft und sie erst einmal ein bisschen quatschen. Ältere Herren sitzen in sauberen Pullovern am Rand und plappern und lästern und lachen. Einer raucht. Der andere dann auch. Sie müssen nicht mehr arbeiten, sondern können diesen Werktag wie jeden anderen genießen.
Die Churros-Bude brummt, die Leute haben Lust auf Süßes. Churros sind längliche Krapfen, Fettgebäck, Glücklichmacher. Ein altes Ehepaar trägt eine prall gefüllte Papiertüte an den Nebentisch. Der Kellner bringt ihnen heiße Schokolade in einer Tasse. Sie tunken Churros hinein, glasieren sie und speisen vergnügt. Sie essen die halbe Tüte leer, den Rest lassen sie liegen. Der Kellner kommt und räumt alles zusammen, knüllt Papier und Churros zu einer großen Müllkugel zusammen.
Zum Frühstück bestellen wir bei dem jungen Kellner Baguette, Marmelade und Kaffee. Außerdem einen Brotaufstrich aus pürierten Tomaten, der ein typisch andalusisches Frühstück komplettiert. Der junge Kellner hat seinen Job noch nicht lange, er ist sehr motiviert und erfüllt uns jeden Wunsch. Vielleicht hofft er auf ein gutes Trinkgeld, kann sein; kriegt er dann ja auch.
Eine Frau verkauft Lottoscheine. Brüllt, raucht und trinkt Cola. Ein alter Mann mit einer gerollten Zeitung unter dem Arm kauft ein Ticket. Er könnte einen Millionengewinn zwar gebrauchen, aber nicht mehr ausgiebig genießen. Er müsste den Reichtum vererben, an seine beiden Enkel, die auch nicht so recht wissen, wohin sie im Leben wollen. Der Mann hingegen weiß genau, wohin er will: auf den Stuhl neben dem Café-Eingang. Sitzen und Zeitung lesen, das ist sein Alltag. Er isst einen Apfel und bestellt ein Bier. Der Tag beginnt. Und ich bestelle einen zweite Caffee con Leche.
Um 15 Uhr ist die Fußgängerzone menschenleer. Niemand mehr zu sehen, nur zwei Verkäuferinnen, die in einem Klamottenladen ausharren und sich dort gähnend langweilen. Die Siesta holt die Leute von den Straßen und lockt sie fürs Nickerchen aufs Sofa. Da ist nur noch ein einsamer Irrer, der eine Cola-Flasche in der Hand hält und lautstark mit sich selbst streitet. Schreiend streift er durch die leeren Straßen, wie ein ruheloser Geist, der Rache will. Wir hoffen, dass er uns nicht entdeckt und erstarren zu Säulen. Haben Glück, der Irre dreht ab. Nur noch sein Lachen ist zu hören; wie es verhallt.
Um 0:27 Uhr liege ich im Bett. Mir ist leicht übel. Habe zu viel Tapas gegessen und zu viel Sherry getrunken. Und der Nachbar schnarcht wieder. Schnarcht laut, so verdammt laut!
Für wenig Geld reisen wir in etwas, das Megabus heißt, von Chicago nach Indianapolis. Das Land ist flach und endlos. Auf uns wartet: die Hölle.
Chicago, 10. September 2015. Es ist kurz nach 11 Uhr. Van Buren Street, neben der stillgelegten Post. Die Fenster sind alle vernagelt, weil niemand mehr Briefe schreibt. Wir warten auf ein Ding, das sich Megabus nennt. Er wird uns nach Indianapolis bringen. Als wir zunächst aus dem Taxi steigen, sind bereits zahlreiche Leute da, die angespannt auf den Bus warten. Weil wir für eine Handvoll Dollar zwei Sitzplätze reserviert haben, können wir entspannt bleiben – andere müssen um einen guten Platz kämpfen. Wer bereit ist, mehr Geld auszugeben, darf verträumt in den Himmel starren1.
Unsere Fahrt kostete 22 US-Dollar für zwei Personen, zuzüglich Booking Fee. Das war durchaus teuer: Wer schnell ist, bekommt Tickets schon für einen lausigen Dollar. Megabus setzt aufs Yield-Management, das typischerweise Fluggesellschaften verwenden: Die niedrigsten Tarife werden denjenigen angeboten, die früh buchen.
Einstieg und Abfahrt. Es ist eng wie im Linienbus – von wegen also mega. Am Heck des Busses verlud ein Mann, der aussieht wie Jamie Foxx, unsere adipösen Koffer. Mit mir schimpfte Jamie: «Zu viele Taschen für zwei!» Wir durften trotzdem mit – und ich musste ihn nicht mal bestechen. Könnte ich auch gar nicht: den Dollarschein diskret in der Handfläche halten und ihn händeschüttelnd wie im Mafiafilm überreichen. Würde total lächerlich aussehen: Wie mir der Schein aus der Hand fällt und im Winde verweht. Peinliche Stille. Lieber nicht.
Der Lautsprecher scheppert. Jamie gibt die Regeln durch, die im Megabus herrschen – nur Verbote. Am besten bleibt man einfach still sitzen, atmet leise und schaut aus dem Fenster. Der Lautsprecher schweigt endlich und Jamie setzt sich zu einer dicken Frau, die eine Perücke trägt. Und ein lila Kleid. Und lila Socken. Ihre Tasche ist auch: lila. Wie ihre Fingernägel. Die Frau liebt die Farbe Lila. Und sie versteht sich blendet mit Jamie, beide lachen viel. Jamie ist glücklich verliebt.
Ich hingegen hab Pech: Mir gegenüber sitzt ein dürrer Junge, den ich nicht leiden kann. Er hat es sich richtig gemütlich gemacht auf seinem Platz. Jetzt zieht er seine Schuhe aus und die Socken auch. Es stinkt unter dem Tisch, der sich zwischen uns befindet. Es stinkt nach Füßen, nach Schweiß und Tod. Die Fahrt wird noch vier Stunden dauern. Kann man hier die Fenster öffnen? Ist das erlaubt, Jamie? Er schüttelt den Kopf. Sorry.
Hell Is Real Jesus Is Real
Der Bus braust über den endlosen Freeway. Die lila-liebende Frau telefoniert derweil mit ihrer besten Freundin und spielt nebenbei Candy Crush auf einem zweiten iPhone. Draußen zieht die amerikanische Landschaft vorbei: geplatzte Reifen am Straßenrand, überfahrene Tiere, braunes Gestrüpp im Todeskampf. Ein riesiges Schild verkündet düster Hell Is Real, Jesus Is Real. Ein anderes verspricht: Free Breakfast. Doch ich weiß: Nichts im Leben ist umsonst!
Abgedrehte Gedanken
Die arme Frau, die neben Stinkefuß sitzen muss, liest die gleiche Zeitschrift wie ich: Psychology Today. Titelthema: Wicked Thoughts. Abgedrehte Gedanken habe ich auch, wenn ich den dürren Jungen anschaue: Wie er da gelangweilt auf seinem Laptop herumtippt; wie er seine stinkenden Käsemauken ausstreckt. Wie er seine Fingergelenke knacken lässt. Ficker. Ich hasse ihn. Aber ich bin zu höflich und zu feige, um ihm ins Gesicht zu brüllen: «The Smell Is Real!»
Würde ihm so gern seine Füße abhacken und aus dem Fenster werfen, um endlich den Gestank loswerden.
Bitte. Aber Jamie schüttelt wieder den Kopf. Sorry.
Rauf aufs Fahrrad, um die Stadt zu erkunden: Auf Yeti geht’s durch die Straßen von Amsterdam, vorbei an Grachten, Coffee-Shops und taumelnden Touristen.
Die Menschen, die durch die Straßen streifen, sie gucken nicht auf den Boden – sie müssen stets auf Radfahrer achten. Jeder gute und schlechte Reiseführer weiß zu berichten, dass es in Amsterdam mehr Fahrräder als Autos gibt. Mehr als die Hälfte der Bewohner pendelt mit dem Rad zur Arbeit, und tatsächlich fahren hier alle mit dem Rad, transportieren auf ihren Gepäckträgern sogar Sperrgut, große Blumen und hungrige Freundinnen. Dünne Mädchen auf dünnen Rennrädern rauschen über die gebogenen Brücken, vorbei an schrottreifen Mühlen mit verbogenen Felgen.
Da wollen wir mitmachen und buchen zwei Plätze bei Mike’s Bike Tours, zahlen 44 € für zwei Räder und ein paar unterhaltsame Stunden. Die gebuchte City Tour beginnt in der Kerkstraat. Wir sind insgesamt sechzehn Leute aus Amerika, England, Australien und wir beide aus Deutschland. Zwei kleine Frauen kommen aus Singapur. Radfahren können sie nicht, sagen sie und kichern eine Weile. Hihihi. Sie trauen sich aufs Fahrrad, das erste Mal in ihrem Leben. Sie lernen das jetzt und hier, in Amsterdam und ohne Stützräder. Sie tragen keine Helme auf den Köpfen, aber Stöckelschuhe an den kleinen Füßen. Ich ahne, dass sie uns in Schwierigkeiten bringen werden.
LSD im Vondelpark
Mike ist heute nicht bei uns. Vielleicht existiert Mike nicht, vielleicht ist Mike nur eine Marketing-Erfindung, weil sich Mike so schön auf Bike reimt. Unser Tourguide heißt Jeff, er empfiehlt uns, LSD zu kaufen und es im Vondelpark zu essen: «Aber lasst eure Portemonnaies zu Hause!», warnt er.
Bevor wir losfahren, erklärt er uns schnell die Regeln, die auf den Straßen von Amsterdam gelten: Es gilt kein stumpfes «rechts vor links», sondern es gilt, den Flow nicht zu stören. Das sei wichtig, setzt bei den Radlern aber voraus, dass sie sich in die Augen schauen, mitdenken und vorausschauend fahren und wissen, was an der nächsten Kreuzung passieren wird. Sie müssen ein gutes Gespür für den Verkehrsfluss entwickeln, bis sie einschätzen können, in welchen Situationen sie beschleunigen sollten und in welchen lieber nicht. Blinken geht mit den Armen: links raushalten, rechts raushalten. «Aber nicht so», sagt Jeff und streckt den Arm schräg in die Luft. Hitler lässt grüßen.
Nach der knappen Einweisung sind wir plötzlich mittendrin im Stadtverkehr. Die Sonne scheint, unsere Wimpern werfen lange Schatten. Es ist schön, den Fahrtwind und das warme Sonnenlicht auf der Haut zu spüren. Für die einheimischen Radfahrer dürften Touristen auf ihren Leihrädern allerdings der blanke Horror sein: Sie haben kein Gespür für den Flow und bringen ihn völlig durcheinander. Anstatt beherzt in die Pedale zu treten, bremsen sie ab und stehen unsicher im Weg und verstopfen die Straßen – so machen es auch die beiden winzigen Frauen aus Singapur. Und sie rammen ein Auto, eine Schwangere, andere Radfahrer. Wenn es über Brücken geht, beschleunigen sie nicht, sondern bleiben einfach stehen. Kippen um. Und dann kichern sie wieder: Hihihi.
Irgendwann halten wir auf der Torensluis-Brücke, die die Singel-Gracht überspannt und Amsterdams breiteste und älteste Brücke ist. Jeff erzählt, was er über Amsterdam auswendig gelernt hat. Das erzählt er mehrmals die Woche. Immer mit den gleichen Witzen, den gleichen Pointen. Doch dann regt sich Jeff spontan über einen Texaner auf, der an die Bibel glaubt – für Jeff nichts als fucking fiction, deshalb kann er’s nicht lassen, ein paar Witze über dieses magere Herrchen am Kreuz zu reißen.
Yeti befördert mich vorbei an kleinen Läden, großen Menschenmengen, vorbei Coffee-Shops, die nach Entspannung riechen
Ich glaube auch nicht an Jesus – aber an Yeti. So heißt mein Fahrrad, sein Name steht auf dem vorderen Schutzblech. Yeti befördert mich durch die Stadt, vorbei an Coffee-Shops, die nach Entspannung riechen, vorbei an kleinen Läden und großen Menschenmengen. Links und rechts fahren andere Fahrräder, überholen und klingeln sich den Weg frei. Meine Gangschaltung hakt, die Bremsen quietschen. Vor mir laufen Touristen in hässlichen Sandalen. Neben mir fährt Tim aus England. Er hat einen schwarzen Lederhut auf dem Kopf, eine langweilige Brille auf der Nase und einen lockigen Bart im Gesicht. Seine Frau Jamie trägt einen faltigen Rucksack auf dem dem Rücken und darin die ganze Unschuld, die sie finden konnte. Hinter mir streiten Jeff und der Texaner; vor mir fahren die beiden Mädchen aus Singapur in Schlangenlinien die Straße entlang. Wir sind schon eine sonderbare Truppe.
Unsere Tour endet am späten Nachmittag an einer alte Windmühle, die nicht weit vom Stadtzentrum entfernt liegt. Hier, an der Molen de Gooyer, trinken wir Bier und essen Käsewürfel. Jeff lässt sich ein paar Getränke ausgeben, die er gierig leert. Im Gegenzug versorgt er uns mit Tipps zum Drogenkauf. Tim schreibt eifrig mit. Hihihi.
Passiert ist das im Spätsommer 2014. Wir – meine Frau und ich – haben viel von der Stadt gesehen und uns ein bisschen heimisch gefühlt. Die Autofahrer in Amsterdam sind natürlich die vielen Räder gewohnt, und respektieren sie. Ich hatte nicht die Angst, dass mich jeder zweite PKW von der Straße rammen will.
Landung auf dem Narita-Airport, dann weiter nach Tokyo. Wir nehmen den Access Express – ein großer Fehler.
Oktober 2017. Noch eine Stunde, dann verlässt der Access Express den Flughafen. Der nächste Zug fährt weitere 40 Minuten später – zu spät, denn wir sind um 12 Uhr verabredet. An der Hanzomon-Station wird Yuko auf uns warten. Sie vermietet ihre Wohnung an uns, in der wir drei Wochen leben werden. Und eigentlich hätte alles perfekt gepasst, wenn das Flugzeug in Kopenhagen keine Verspätung gehabt hätte.
In einer Stunde müssen wir es aus dem Flugzeug, durch die Passkontrolle und zur Gepäckausgabe schaffen. Wir stehen und gehen und betreten japanischen Boden. «Welcome to Japan», wünscht ein Plakat. Zügig geht’s zur Passkontrolle, dort lächeln sie viel und sind absurd höflich. Jede noch so kleine Aufgabe wird von einer einzelnen Person erledigt: Da ist zum Beispiel ein älterer Herr, der die Menschen zur richtigen Station schickt. «Number 7, Number 5, Number 3», leiert er. Und mehr macht er nicht.
Jede noch so kleine Aufgabe wird von einer einzelnen Person erledigt
Ich muss zur Station #7, dort nimmt eine Frau meine Fingerabdrücke und schießt ein Foto von meinem müden Gesicht. Bereits im Flugzeug haben wir die Einreiseformulare ausgefüllt – ich weiß nie, ob das alles so richtig ist, was ich da eintrage1. Allein die Adresse der Wohnung in Chiyoda! Stimmt sie? Es gibt in Tokyo keine Straßennamen, und die Hausnummern sind nach einem seltsamen System2 vergeben. Unsere Adresse – also die Adresse von Yuko – passt kaum auf die Linie des Formulars.
Die intimen Fragen «Sie sind ein lustmordender Gauner, haben Sie Drogen dabei?» und so weiter habe ich souverän mit «No» beantwortet. Da darf man wahrlich keinen Fehler machen!
Zumindest für mich als Europäer ist das System seltsam. Wer sich für den Aufbau von japanischen Adressen interessiert, findet hier eine anschauliche Erläuterung.
Schließlich geht alles sehr schnell: Wir zeigen hier und da den Pass vor, geben die Formulare ab und latschen weiter. Eine Kamera misst unsere Körpertemperatur, ein Teppich desinfiziert unsere Schuhsohlen. Und noch mal: «Welcome to Japan!» Jetzt aber wirklich und tatsächlich.
Wir haben noch eine Dreiviertelstunde. Angespannt stehen wir an der Gepäckausgabe, die ersten Koffer fallen auf das Band. Eine winzige Japanerin kommt angerannt, wuchtet einen Koffer, der doppelt so groß ist wie sie, vom Band und schleift ihn durch die Halle zu ihrer Tochter, die dösend in ihr Smartphone versunken ist. Geisterhaftes Gesicht, unendliche Langeweile. Ein Flughafenmitarbeiter steht an dem Loch, aus dem die Gepäckstücke plumpsen, dreht die Koffer und Taschen ordentlich aufs Band. Das ist sein Job, und nur das. Wir sind erleichtert, als er auch unser Gepäck geraderückt.
Mit dem Access Express nach Tokyo
Für den Access Express brauchen wir eine Pasmo-Karte, die es am Automaten gibt. Auf «English» drücken, «Buy IC Card», «nameless», 4000 Yen einzahlen. Davon sind 500 Yen Pfand, also bleiben 3500 Yen als Guthaben für die Metro, die JR und für Einkäufe am Kiosk und so weiter. Dann haben wir auch das geschafft: Wir sitzen in einem fast leeren Waggon des Access Express. Pünktlich um 10:44 Uhr rumpelt er los, zweimal überholen uns schnellere Züge – der Schnellste ist der «Express» wahrlich nicht.
Die Müdigkeit ist eine starke Gegnerin und ich bin äußerst schwach
Ich muss aufpassen, nicht einzuschlafen. Die Müdigkeit ist eine starke Gegnerin und ich bin extrem schwach. Das gleichmäßige Rattern des Zuges verschärft den Kampf. Immer wieder fallen mir die Augen zu und die Welt verschwindet für einige Sekunden und ich tauche ein in seltsame Welten, ehe ich aufschrecke und hastig einatme. Wie in Zeitlupe zieht die japanische Landschaft vorbei: viel Grün, ein paar kleine Häuser, kleine Autos und riesige Strommasten. An jeder Station steigen Leute zu, es wird voller und voller und die Ansagen werden länger und länger. Was hat der Zugführer denn alles zu berichten? Er hört gar nicht mehr auf zu sprechen, ist das vielleicht ein Hörbuch, das sie hier abspielen?
Touristen in Schockstarre
Wir halten an der Keisei-Takasago Station – und werden rausgeworfen. Das kam überraschend, zumindest für uns, die kein Japanisch verstehen. Ein Mann mit weißen Handschuhen sagt uns, dass der Zug hier endet. Den Grund nennt er nicht, weil er es nicht kann, nicht auf Englisch. Eigentlich wollten wir in Oshiage aus- und umsteigen. Jetzt stehen wir hier, irgendwo am Rand von Tokyo. Der «Express»-Zug fährt in die andere Richtung zurück, ein leerer Geisterzug.
Der Bahnsteig ist voller Touristen in Schockstarre. Was nun, wie geht’s weiter? Wir wissen es nicht – und steigen einfach in den Zug, der am Bahnsteig steht. Irgendwie müssen wir ja weiterkommen. Im Zug fragen wir einen älteren Mann, ob dieser Zug nach Oshiage fährt. Er schaut uns an, lächelt verlegen, er kann uns nicht helfen, weil er kein Englisch versteht. Zumindest tut er so. Der Zug hält an der nächste Station: Aoto. «Oshiage? Oshiage?», wiederholen wir – das müsste der Mann doch verstehen. Aber er schaut nur.
Endlich mischt sich eine Frau ein, offenbar eine Europäerin. Sie deutet auf einen Zug, der am gegenüberliegenden Bahngleis wartet. Den da müsst ihr nehmen! Wir vertrauen der Fremden und steigen um. Und warten. Auf der Anzeige steht nun: Delayed. Leute steigen ein, stehen, sitzen, warten. Immerhin gibt es im Zug kostenloses WLAN. Von Google Maps erfahren wir: Es hat offenbar einen Unfall gegeben, deshalb steht hier alles still. Vielleicht hat sich einer auf die Schienen geworfen, das passiert immer wieder. Wir schicken Yuko eine Nachricht, dass wir uns verspäten werden. Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als zu warten.
Unser Ziel: Faro in Portugal, Hauptstadt der Algarve. Die meisten Touristen fahren nach der Landung sofort weiter. Wir aber bleiben und erkunden die alten Gassen.
Das Flugzeug ist eine Boeing 737-800, die im Internet 90 Millionen Euro kostet. Ich sitze in Reihe 14 auf dem Fensterplatz, auf Sitz A. Neben mir sitzt meine treue Lebens- und Reisegefährtin auf Sitz B, dem unsäglichen Mittelplatz1. Ich schau mich um: Der Notausgang befindet sich direkt hinter mir2, in Reihe 15.
«Auf dem Rückflug sitzt du in der Mitte», droht sie. Leise grummelnd ignoriere ich ihre Ankündigung und stopfe meinen Rucksack unter den Vordersitz.
Vor Jahren schon habe ich mir angewöhnt, bei jedem Flug die Reihen bis zum nächsten Notausgang zu zählen. Wenn das Flugzeug in Flammen steht und dicker Qualm die Sicht versperrt, weiß ich wenigstens, wohin ich muss und wie weit ich es habe, während der Tod versucht, mich zu holen. Die Stewardess – sie wird Julia oder Sandra heißen – erwähnt in ihrem Vortrag vor dem Start explizit, dass im «unwahrscheinlichen Falle» eines Absturzes das Handgepäck im Flugzeug verbleiben müsse. Einerseits selbstverständlich. Andererseits würde ich mir schon überlegen, ob ich meinen Rucksack nicht doch mitnehmen sollte. Ich säße dann im Rettungsboot mit den anderen armen Seelen und hätte als einziger Idiot meinen Krempel dabei. Der Hass der Mitleidenden wäre immens, weil ich meine Kekse mit niemandem teilen würde. («Mit mir doch aber!», interveniert meine Partnerin in Gedanken.)
«Guten Tag», begrüßt uns ein mittelalter Mann und setzt sich auf Sitz C am Gang. Er hat eine eng gerollte Zeitschrift dabei, die er ohne Sorgfalt in das Netz im Vordersitz schiebt, wobei einige Seiten irreversibel Schaden nehmen. Dann atmet der Mann unnötig laut aus, als würde er auf sich aufmerksam machen wollen. Als erwarte er, dass wir uns endlich nach seinem Befinden erkundigen. Ich lasse ihn schnaufen und verweile in akuter Lethargie.
5. Juni 2019, 18:30 Uhr
Mit einer halben Stunde Verspätung hebt die Maschine von der Nordbahn 09L/27R ab und erhebt sich in die warme Abendluft. Verlässt den Boden, die Stadt und später das Land. Als wir die Reiseflughöhe erreicht haben, hält der Pilot einen begeisterten Monolog über sein Flugzeug – über diese zauberhafte Wundermaschine, in deren Leib wir sitzen und schwitzen. Anschließend erklärt er dies und das in übertriebener Ausführlichkeit. Wahrscheinlich ist der Pilot objektophil.
Die Flugbegleiterinnen nehmen derweil den Servicebetrieb auf. Getränke, Sandwiches und Snickers sind kostenpflichtig, also teuer. Die Stewardess kommt mit dem fahrenden Kiosk angejuckelt und fährt mir mit Absicht und voller Wucht gegen mein Knie. Ich ertrage den Schmerz tapfer und schweigend, nenne die Frau in Gedanken aber «fiese Mutterfickerin».
«Möchten Sie etwas trinken oder essen, Sir?», fragt die Stewardess ohne der Körperverletzung weitere Aufmerksamkeit zu widmen. Ich lese ihr Namensschild: Julia Sandra.
«Ich hätte gern ein Snickers und einen Kaffee.»
«Lassen sie mich kurz kopfrechnen: Das macht … 90 Millionen Euro.»
«Das Flugzeug wollte ich aber nicht kaufen.»
«Zahlen Sie bar?»
«Selbstredend.»
Ich wollte eigentlich nie Besitzer einer Boeing 737-800 sein.
Das Fliegen ist verkommen zu einer schlechten Busfahrt, die wir sitzend und wartend verbringen
Nach dem Abendessen notiere ich in mein Notizbuch: Das Fliegen ist verkommen zu einer schlechten Busfahrt, die wir sitzend und wartend verbringen. Sitzen und warten, atmen und pinkeln; sitzen und warten, einkaufen und pinkeln. Es hilft, aus dem Fenster zu schauen und das Miniaturwunderland zu betrachten. Zu sehen sind: Landstraßen, Autobahnen, Felder, Gräber, Dörfer und Wälder. Zu sehen sind: Herr und Frau Glombinski, wie sie in ihrem Garten arbeiten. Das Ehepaar investiert viel Zeit in die Pflege ihrer Rasenflächen und Sträucher. Weitere Hobbys: nein.
Gerhard Glombinski mäht jeden Samstag um Punkt 8:00 Uhr den Rasen mit seinem Markenrasenmäher, den er neu hat. Herr G. ärgert sich den ganzen Tag lang, wenn er sich samstags mit dem Mähen verspätet. Schuld daran ist meistens seine Frau Renate Glombinski, die ihn von 7:30 Uhr bis 7:50 Uhr beim Frühstück mit ihren Betrachtungen langweilt und es manchmal schlicht übertreibt mit ihren Ausführungen. (Wie der Pilot bei seinen scheppernden Durchsagen.) Herr Glombinski kann sich jedoch nicht von seiner Frau scheiden lassen: Allein ist er nicht einmal in der Lage, eine Boeing 737-800 zu landen. Nein, er braucht seine Frau wie der Pilot seine Co-Pilotin.
Meine seltsamen Gedanken werden jäh unterbrochen: Die Stewardess erläutert unaufgefordert, dass es heute «sensationelle Sonderangebote» gäbe. Sie werde zeitnah mit dem Verkaufswagen durch das Flugzeug fahren. Es würden satte Rabatte winken. «Heinz, ich werde ein neues Parfüm erwerben, damit ich den ganzen Urlaub lang verführerisch dufte», überlegt eine gewöhnliche Dame laut. Früher war das Fliegen eine aufregende Angelegenheit, heute fühle ich diese Leere und den stechenden Schmerz im Knie.
Faro, Algarve
Landung um 20:31 Uhr Ortszeit. Das also ist Faro, administratives Zentrum der Algarve. «Diese Stadt ist normal», behauptet der Reiseführer nüchtern. Die meisten Passagiere werden lediglich den Flughafen sehen. In großen Bussen werden sie weiterfahren und sich in ihre Hotel-Anlagen bringen lassen, die sich irgendwo da draußen befinden. Unser Ziel ist hingegen: die Altstadt von Faro, das Centro Histórico, wo wir in der Casa d’Amelie übernachten werden – mitten in der Fußgängerzone gelegen.
Ein Schatten huscht an mir vorbei, ich bin von einem betörenden Duft umgeben. Die Luft auf dem Rollfeld ist kühler als gedacht. Ich bereue, keine Sommerjacke eingepackt zu haben. Es ist windig und die Sonne steht tief. Ein alter Bus bringt uns zum Gate. Dann den Koffer vom Band holen, dann den Mietwagen abholen – doch bei der Autovermietung wollen sie eine Kreditkarte in ihr System einlesen und das System verlangt eine PIN.
Ich überlege fiebrig: Wie war doch gleich meine Geheimnummer? Es geistern einige Zahlen durch meinen pochenden Kopf, es formt sich eine Abfolge, 1, 7, könnte sein, könnte nicht sein, 9, 8. Doch meine Visa geht dann ohne PIN, anders als die Master Card meiner Partnerin3.
Hat sie eigentlich schon verstanden, dass ich nun Flugzeugbesitzer bin? – «Nein», sagt sie auf Nachfrage.
Die Frau von der Autovermietung – sie wird Magda heißen – will uns noch viele sinnlose Versicherungen aufschwatzen, die wir alle ablehnen und abermals ablehnen und wiederholt ablehnen. Aus Rache hat sie uns dann eine ausgedachte Gebühr auf die Rechnung geschmuggelt, die wir gutgläubig unterzeichnen. Abends wird Mietwagen-Magda ihrem Ehemann nichts davon erzählen, denn das ist ihr Berufsalltag: Touristen irgendeinen Unfug anzudrehen. Ihre Seele ist ein schwarzer Tümpel und ihr Mann will es nicht mehr hören. Es ist bereits Magdas dritter Ehemann – und wahrscheinlich nicht ihr letzter.
21:17 Uhr
Der Fiat 500 lächelt uns schüchtern zu. Wir verlassen den Mietwagenparkplatz und fahren den kurzen Weg vom Aeroporto de Faro rüber nach Faro City. In der Altstadt suchen wir in den engen Straßen verzweifelt eine Parklücke, finden aber nur Autos und Einfahrten. Um 21:48 Uhr stehen wir schließlich in einer Seitenstraße und zweifeln sofort an der Rechtmäßigkeit dieses Parkplatzes. Die Markierungen auf der Straße sind uneindeutig. Vor allem aber ist der Umstand, dass die Lücke noch frei war, zutiefst verunsichernd.
Dann muss er sich das Blut aus dem Gesicht wischen
Ein steinalter Mann schlurft den Bürgersteig entlang, ein Schatten verfolgt ihn, der Mann lächelt nicht. Wir fragen ihn, ob er glaubt, dass unser Auto hier ordnungsgemäß abgestellt ist: «Can we park here? Aqui, aqui?» Der Mann bleibt stehen, verschnauft und atmet schwer, ignoriert aber letztendlich unsere simple Frage – es ist ja nicht so, dass wir ein mehrseitiges Gutachten von ihm verlangen. Nach einer halben Minute setzt der Greis seinen Weg hustend fort und verschwindet um die Straßenecke. Er war der letzte Mann für heute.
Woanders gibt es einen großen Parkplatz für Touristen, dorthin werden wir das Auto später bringen, beschließen wir. (Auf diesem endlosen Besucherparkplatz läuft ein spindeldürrer Mann in Warnweste herum und weist Autos ein. Kassieren darf er nicht – das Parken ist hier kostenlos. Eigentlich. Für den «Service» bekommt er aber Trinkgeld, zumindest hofft er darauf. Ein paar Münzen, hin und wieder vielleicht sogar ein Lächeln. Manchmal wird der Mann von Möwen attackiert, dann muss er sich das Blut aus dem Gesicht wischen, denn die Autofahrer vertrauen keinem, dem Blut über die Wangen läuft und der Geld verlangt.)
Google Maps führt uns ohne Umwege in die Fußgängerzone von Faro. An einer unscheinbaren Tür in der Wand klingeln wir. Unsere Gastgeberin Laetitia ist noch beim Training, also lässt ihre Mama uns ins Haus. Sie kann kaum Englisch, wir verstehen aber trotzdem, wo welche Schränke und Schubladen verborgen sind. Die Wohnung ist modern und schick eingerichtet; viel Holz, viel Weiß, alles maßgeschreinert. (Die Dusche aber ist nicht richtig dicht und meine Partnerin hält plötzlich den Türgriff vom Badezimmer in der Hand. «Ich habe den Griff ganz normal nach unten gedrückt», erklärt sie in einer eilig notierten Pressemitteilung.)
Die Geister, die Jahrzehnte hier lebten, ließen sich vom Baulärm vertreiben
Unsere Wohnung befindet sich in der Casa d’Amelie, in der es weitere Ferienwohnungen gibt. Das Haus ist Ergebnis eines Sanierungsprojekts, das neues Leben in ein altes Haus brachte, das 40 Jahre leer stand und verfiel. Die Geister, die Jahrzehnte hier lebten, sind verschwunden; sie ließen sich vom Baulärm vertreiben. Unsere Gastgeberin arbeitet als Anwältin in der Stadt, nebenbei kauft sie alte Häuser und richtet sie her. Andere sitzen als Hobby eher sinnlos im Garten und grämen sich der Geräusche, die der Nachbar mit seinem Markenrasenmäher veranstaltet. L. hingegen ist eine Macherin, geschäftig und vielbeschäftigt.
Tasca do João
Trotz später Stunde (= 22:35 Uhr) haben wir noch ein bisschen Hunger, also lassen wir uns von L. ein gutes Restaurant für Kleinigkeiten empfehlen: Sie schickt uns in ihr Lieblingslokal, in die Tasca do João am Largo do Pé da Cruz. Hier sitzen wir und dippen Brot und Mini-Zwieback in Olivenöl. Es ist kurz vor 23 Uhr, als ich an einer geschrumpften Bierflasche nippe, an einem Sagres Mini (250 ml). Ich hatte beim Chef diffus «una cerveja» bestellt, ohne eine ergänzende Bemerkung. Er brachte mir daraufhin diese winzige Flasche, die ich ohne Protest annahm. Vielleicht hat der Chef mir angesehen, dass ich nicht viel vertrage.
Viel los ist in der Tasca nicht. Außer uns ist noch ein weiteres Liebespaar anwesend sowie zwei Japanerinnen, die schräg hinter uns am Nebentisch plaudern und Wein in winzigen Schlucken schlürfen. Später werden sie sich gegenseitig ablecken. Auch zwischen die Fußzehen dringen ihre Zungen. Der Chef wird das schulterzuckend hinnehmen.
Später kommt L. vorbei, grüßt den Chef, umarmt ihn, küsst ihn, und setzt sich schließlich zu uns. Sie will uns unbedingt mit Tipps für den morgigen Tag versorgen, sie ist in dieser Hinsicht sehr gewissenhaft. Undenkbar, dass wir uns womöglich noch langweilen. Wir sollen unbedingt eine «Walking Tour» machen, um ein bisschen was über die Stadt zu erfahren, meint L. Dann muss sie weiter, ihre Hündin wird ungeduldig. Das Tier steht vor dem Lokal und schaut ungeduldig durch die Glastür. Die Hündin heißt Amelie, nach ihr ist die Casa, in der wir wohnen, benannt. Amelie pflegt stets um diese Uhrzeit ein üppiges Schaumbad zu nehmen. So soll es sein.
Bevor wir eine neue Stadt erkunden, sehen wir sie von oben: Wenn das Flugzeug über den Häusern in den Sinkflug geht. Auch am Anfang dieses Reiseblogs steht der Landeanflug.
Die Maschine dringt von oben in die Wolkendecke ein, taucht hinein in ein endloses Weiß, das unser Flugzeug wie Zuckerwatte umhüllt. Minuten vergehen, ohne dass der Boden auftaucht. Das Brummen der Triebwerke liegt schwer in den Ohren und übertönt die leisen Gespräche neben mir – nicht aber das kreischende Baby in der ersten Reihe.
Hinter mir sitzen drei Männer, von denen einer den Abflug verzögert hat. In seinem Rucksack befand sich nämlich ein Messer; ein ordentliches Messer, kein Spielzeug. Die Polizei attestierte dem Mann eine Ordnungswidrigkeit, während wir Passagiere im Flugzeug ausharrten und warteten, bis die Bürokratie erledigt war. Die drei Männer tranken ein Bier nach dem anderen und fanden das ziemlich lustig.
Das Brummen der Triebwerke liegt schwer in den Ohren und übertönt die leisen Gespräche neben mir
Ganz plötzlich ist der dunkle Asphalt der Landebahn zu sehen, offenbar zu plötzlich, denn der Pilot lässt die Maschine mit voller Kraft voraus über die Landebahn rauschen. Wir werden in die Sitze gedrückt, gewinnen an Höhe und verschwinden wieder im dichten Nebel.
Unter den Passagieren macht sich leichte Unsicherheit breit. Neben mir tauschen sie sich aufgeregt aus. Meine Sitznachbarn haben voreilig die Schwimmwesten aus dem Zellophan gerissen und gleich aufgepustet, obwohl die laminierten Sicherheitshinweise erklären, wie es geht: Schwimmwesten werden erst im Meer aufgepustet, wenn die Haie schon mal geknabbert haben – keinen Augenblick vorher. Sie sehen jetzt ziemlich dämlich aus, meine Sitznachbarn in ihren Schwimmwesten. Ich habe sie zu hassen gelernt, als sie nach dem Start sofort einschliefen und den Weg mit ihre schweren Beinen zur Toilette versperrten. Laut geschnarcht haben sie auch.
Wenn es das Flugzeug jetzt zerlegen würde – es wär mir ein bisschen egal
Der Pilot kreist einige Male über der Stadt und rührt den dicken Nebel ordentlich um, bis er schön cremig ist. Dann wagt er einen zweiten Versuch. Wenn es das Flugzeug jetzt zerlegen würde, es wär mir ein bisschen egal.
Das Flugzeug sinkt wieder, nähert sich der Erdkruste, die abermals sehr plötzlich auftaucht, dieses Mal aber niemanden überrascht. Hart setzt die Maschine auf, kracht auf den Asphalt, reibt Gummi in die raue Oberfläche. Nachdem der zweite Landeversuch nicht in einer Katastrophe endete, klatschen die Passagiere Beifall wie sonst bei einem Charterflug nach Mallorca. Besonders enthusiastisch applaudieren die drei Männer hinter mir und lassen sich vom Steward die restlichen Bierdosen auch noch geben. Mir gefällt der Gedanken, sie nie wieder zu sehen.
In diesem Blog veröffentliche ich Reisenotizen, Geschichten und Texte über Touristen. Als Quelle dienen mir auch meine Moleskine-Notizbücher, in die ich meine Gedanken in teils unleserlicher Schrift festhielt. Etwaige Lücken füllt meine Fantasie. Ergänzend zu diesem Blog gibt es einen Instagram-Account, auf dem ich Bilder von nah und fern poste. Lasst mir einen Like da!