Mona Lisa Hates Us All

Louvre, Paris. Es ist der 22. August 2008, es ist 12:56 Uhr.

Paris, Louvre: Ich will Mona Lisa in die Augen sehen – doch sie würdigt mich keines Blickes.

Der Morgen in Paris ist grau und feucht. Von unserem kleinen Frühstücksraum aus kann ich sehen, wie die Briefträgerin ihren Handwagen durch den Regen schiebt. Die Straße ist dunkelgrau und glänzt; auf dem feuchten Fußweg spiegeln sich die gelben Lichter der Patisserie. Bäche rauschen den Rinnstein entlang. Das reinste Scheißwetter.

Nach einem ausgedehnten Frühstück fahren wir mit der Metro dahin, wo an einem verregneten Tag alle Touristen hinfahren: zum Louvre, zu Mona Lisa, la Joconde, la Gioconda. Zwischen den zahllosen Leuten stehen wir unter Regenschirmen und warten darauf, dass wir die gläserne Pyramide vom Architekten Ieoh Ming Pei endlich betreten dürfen. Wie einst Tom Hanks.

Flüchtige Blicke

Drinnen ist es trocken, aber auch unglaublich voll, fast überfüllt. Die Masse schiebt und zieht uns durch die Gänge, über Treppen und durch Hallen, immer den Hinweisschildern nach, vorbei an Gemälden von Dicken, von Nackten, von Jesus. Niemand schenkt ihnen mehr als einen flüchtigen Blick, wir wollen schließlich nur eine sehen. Und nach einer halben Stunde kann ich ihr endlich in die Augen schauen. Mona Lisa blinzelt nicht. Sie schaut mich an, egal wo ich stehe, ob links, in der Mitte oder rechts.

Wie im Stripclub gilt auch hier: Nur schauen, nicht anfassen!

Ich bin überrascht, wie kalt mich ihr Anblick lässt. Als ich vor ein paar Jahren in Florenz vor der Geburt der Venus von Sandro Botticelli stand, war das ein ergreifender Moment. Es mag allein an der Größe des Gemäldes gelegen haben, dass es mich nachhaltig beeindruckte. Und an der Nähe: In meiner vagen Erinnerung konnte ich ganz nah heran an die Venus, und betrachtete in Ruhe die feinen Details und die Struktur der Farbe.

Doch hier im Louvre, zwischen all den schwitzenden Möchtegern-Fotografen und genervten Vätern und aufgedrehten Kindern, bleibt keine Zeit für große Gefühle. Ich werde fast erdrückt, weil die Leute nach vorne drängeln, wo das Museumspersonal die wilde Meute einigermaßen im Griff hat. Penibel achten sie darauf, dass niemand der Mona L. zu nahe kommt. Wie im Stripclub gilt auch hier: Nur gucken, nicht anfassen! Nur ein Foto und weiter, bellt die Frau auf Französisch.

Lächeln!

Wir sind wie aufgedrehte Paparazzi, die einen Superstar erspäht haben. Blitzlichter, surrende Videokameras und Mobiltelefone, die so tun, als wären sie Fotoapparate. Ich will Lisa ganz für mich haben, nur sie und ich, nur wir beide. Aber das interessiert sie nicht. Hinter zentimeterdickem Panzerglas lächelt sie jeden an, auch Hansi und Moni, auch Harold und Maude. All jene, die auch nichts Besseres wissen, als ein verwackeltes Bild von Mona Lisa zu machen. Und noch eins und noch eins und noch eins. Andere halten mit dem Camcorder drauf: vierundzwanzig Mona Lisas pro Sekunde.

Im Jahr 2008 sahen Digitalkameras noch so aus: seltsam und eher klobig. An dieser Stelle sei gefragt: Welchen Sinn hat es, ein Bild von einem Bild zu machen? Wer schaut sich das jemals wieder an? Außerdem: Wie sinnvoll ist es, ein Bild von einem Bild von einem Bild zu machen?

Keiner hat den Mumm, Mona Lisa mitzunehmen – so wie der Landstreicher Vincenzo Peruggia am 21. August 1911. Er versteckte sich in einem Schrank und ließ sich über Nacht im Louvre einschließen. Er löste das Gemälde aus seinem Rahmen und schmuggelte es am nächsten Tag aus dem Museum in die Freiheit. Peruggia versteckte Mona Lisa in seiner Wohnung, in einem Loch in der Wand, nicht weit vom Louvre entfernt. Er wollte sie zurück nach Italien bringen, so sein Plan, doch in Florenz erwischten sie ihn. Die Polizei nahm ihn fest und ein Gericht verurteilte den Gelegenheitsgauner zu sieben Monaten Haft. Ein mildes Urteil. Das Bild kehrte schließlich 1913 nach Paris zurück und wurde wieder in seinen Rahmen gesperrt, und dann – nach einem Anschlag1 – hinter dickes Panzerglas.

  1. Ein bolivianischer Tourist hatte im Jahr 1956 stundenlang vor dem Gemälde ausgeharrt – und dann einen Stein auf Mona Lisa geschleudert, der sie am Ellenbogen verletzte.

Plötzlich stößt irgendein Vater mich zur Seite, überfährt mich mit dem Kinderwagen, an dem tausend Taschen und Tüten baumeln. Zwei Wachen zerren mich zur Seite; zum Ausgang. Mona Lisa verschwindet aus meinem Blickfeld. Für intimere Momente mit ihr muss ich im Souvenir-Shop wohl ein Mona-Lisa-Poster kaufen. Oder eine Tasse mit ihrem Gesicht. Oder die bedruckte Bettwäsche. Den Mona-Lisa-Schlüsselanhänger, das M.-L.-Mauspad, den Jutebeutel, den Regenschirm, den Kalender, den Handfächer, das Puzzle, das Lineal, das Lesezeichen. Oder das schicke Mona-Lisa-Brillen-Etui. Dann ist sie wirklich mein.