Delayed in Tokyo

Ausblick vom «Shibuya Hikarie»: Die Lust auf Kommerz steigt!

Landung auf dem Narita-Airport, dann weiter nach Tokyo. Wir nehmen den Access Express – ein großer Fehler.

Oktober 2017. Noch eine Stunde, dann verlässt der Access Express den Flughafen. Der nächste Zug fährt weitere 40 Minuten später – zu spät, denn wir sind um 12 Uhr verabredet. An der Hanzomon-Station wird Yuko auf uns warten. Sie vermietet ihre Wohnung an uns, in der wir drei Wochen leben werden. Und eigentlich hätte alles perfekt gepasst, wenn das Flugzeug in Kopenhagen keine Verspätung gehabt hätte.

In einer Stunde müssen wir es aus dem Flugzeug, durch die Passkontrolle und zur Gepäckausgabe schaffen. Wir stehen und gehen und betreten japanischen Boden. «Welcome to Japan», wünscht ein Plakat. Zügig geht’s zur Passkontrolle, dort lächeln sie viel und sind absurd höflich. Jede noch so kleine Aufgabe wird von einer einzelnen Person erledigt: Da ist zum Beispiel ein älterer Herr, der die Menschen zur richtigen Station schickt. «Number 7, Number 5, Number 3», leiert er. Und mehr macht er nicht.

Jede noch so kleine Aufgabe wird von einer einzelnen Person erledigt

Ich muss zur Station #7, dort nimmt eine Frau meine Fingerabdrücke und schießt ein Foto von meinem müden Gesicht. Bereits im Flugzeug haben wir die Einreiseformulare ausgefüllt – ich weiß nie, ob das alles so richtig ist, was ich da eintrage1. Allein die Adresse der Wohnung in Chiyoda! Stimmt sie? Es gibt in Tokyo keine Straßennamen, und die Hausnummern sind nach einem seltsamen System2 vergeben. Unsere Adresse – also die Adresse von Yuko – passt kaum auf die Linie des Formulars.

  1. Die intimen Fragen «Sie sind ein lustmordender Gauner, haben Sie Drogen dabei?» und so weiter habe ich souverän mit «No» beantwortet. Da darf man wahrlich keinen Fehler machen!
  2. Zumindest für mich als Europäer ist das System seltsam. Wer sich für den Aufbau von japanischen Adressen interessiert, findet hier eine anschauliche Erläuterung.

Schließlich geht alles sehr schnell: Wir zeigen hier und da den Pass vor, geben die Formulare ab und latschen weiter. Eine Kamera misst unsere Körpertemperatur, ein Teppich desinfiziert unsere Schuhsohlen. Und noch mal: «Welcome to Japan!» Jetzt aber wirklich und tatsächlich.

Kurz vor der Abfahrt sind noch viele Sitzplätze zu haben.

Wir haben noch eine Dreiviertelstunde. Angespannt stehen wir an der Gepäckausgabe, die ersten Koffer fallen auf das Band. Eine winzige Japanerin kommt angerannt, wuchtet einen Koffer, der doppelt so groß ist wie sie, vom Band und schleift ihn durch die Halle zu ihrer Tochter, die dösend in ihr Smartphone versunken ist. Geisterhaftes Gesicht, unendliche Langeweile. Ein Flughafenmitarbeiter steht an dem Loch, aus dem die Gepäckstücke plumpsen, dreht die Koffer und Taschen ordentlich aufs Band. Das ist sein Job, und nur das. Wir sind erleichtert, als er auch unser Gepäck geraderückt.

Mit dem Access Express nach Tokyo

Für den Access Express brauchen wir eine Pasmo-Karte, die es am Automaten gibt. Auf «English» drücken, «Buy IC Card», «nameless», 4000 Yen einzahlen. Davon sind 500 Yen Pfand, also bleiben 3500 Yen als Guthaben für die Metro, die JR und für Einkäufe am Kiosk und so weiter. Dann haben wir auch das geschafft: Wir sitzen in einem fast leeren Waggon des Access Express. Pünktlich um 10:44 Uhr rumpelt er los, zweimal überholen uns schnellere Züge – der Schnellste ist der «Express» wahrlich nicht.

Die Müdigkeit ist eine starke Gegnerin und ich bin äußerst schwach

Ich muss aufpassen, nicht einzuschlafen. Die Müdigkeit ist eine starke Gegnerin und ich bin extrem schwach. Das gleichmäßige Rattern des Zuges verschärft den Kampf. Immer wieder fallen mir die Augen zu und die Welt verschwindet für einige Sekunden und ich tauche ein in seltsame Welten, ehe ich aufschrecke und hastig einatme. Wie in Zeitlupe zieht die japanische Landschaft vorbei: viel Grün, ein paar kleine Häuser, kleine Autos und riesige Strommasten. An jeder Station steigen Leute zu, es wird voller und voller und die Ansagen werden länger und länger. Was hat der Zugführer denn alles zu berichten? Er hört gar nicht mehr auf zu sprechen, ist das vielleicht ein Hörbuch, das sie hier abspielen?

Da passt keiner mehr rein. Also, eigentlich schon, aber die Herren stehen im Weg.

Touristen in Schockstarre

Wir halten an der Keisei-Takasago Station – und werden rausgeworfen. Das kam überraschend, zumindest für uns, die kein Japanisch verstehen. Ein Mann mit weißen Handschuhen sagt uns, dass der Zug hier endet. Den Grund nennt er nicht, weil er es nicht kann, nicht auf Englisch. Eigentlich wollten wir in Oshiage aus- und umsteigen. Jetzt stehen wir hier, irgendwo am Rand von Tokyo. Der «Express»-Zug fährt in die andere Richtung zurück, ein leerer Geisterzug.

Was tun? Vielleicht ein bisschen nachdenken.

Der Bahnsteig ist voller Touristen in Schockstarre. Was nun, wie geht’s weiter? Wir wissen es nicht – und steigen einfach in den Zug, der am Bahnsteig steht. Irgendwie müssen wir ja weiterkommen. Im Zug fragen wir einen älteren Mann, ob dieser Zug nach Oshiage fährt. Er schaut uns an, lächelt verlegen, er kann uns nicht helfen, weil er kein Englisch versteht. Zumindest tut er so. Der Zug hält an der nächste Station: Aoto. «Oshiage? Oshiage?», wiederholen wir – das müsste der Mann doch verstehen. Aber er schaut nur.

Er hat Glück: Er darf durchs Fenster gucken und tagträumen.

Endlich mischt sich eine Frau ein, offenbar eine Europäerin. Sie deutet auf einen Zug, der am gegenüberliegenden Bahngleis wartet. Den da müsst ihr nehmen! Wir vertrauen der Fremden und steigen um. Und warten. Auf der Anzeige steht nun: Delayed. Leute steigen ein, stehen, sitzen, warten. Immerhin gibt es im Zug kostenloses WLAN. Von Google Maps erfahren wir: Es hat offenbar einen Unfall gegeben, deshalb steht hier alles still. Vielleicht hat sich einer auf die Schienen geworfen, das passiert immer wieder. Wir schicken Yuko eine Nachricht, dass wir uns verspäten werden. Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als zu warten.

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