Nach Faro fliegen

Flieg, Schwalbe, flieg!

Unser Ziel: Faro in Portugal, Hauptstadt der Algarve. Die meisten Touristen fahren nach der Landung sofort weiter. Wir aber bleiben und erkunden die alten Gassen.

Das Flugzeug ist eine Boeing 737-800, die im Internet 90 Millionen Euro kostet. Ich sitze in Reihe 14 auf dem Fensterplatz, auf Sitz A. Neben mir sitzt meine treue Lebens- und Reisegefährtin auf Sitz B, dem unsäglichen Mittelplatz1. Ich schau mich um: Der Notausgang befindet sich direkt hinter mir2, in Reihe 15.

  1. «Auf dem Rückflug sitzt du in der Mitte», droht sie. Leise grummelnd ignoriere ich ihre Ankündigung und stopfe meinen Rucksack unter den Vordersitz.
  2. Vor Jahren schon habe ich mir angewöhnt, bei jedem Flug die Reihen bis zum nächsten Notausgang zu zählen. Wenn das Flugzeug in Flammen steht und dicker Qualm die Sicht versperrt, weiß ich wenigstens, wohin ich muss und wie weit ich es habe, während der Tod versucht, mich zu holen. Die Stewardess – sie wird Julia oder Sandra heißen – erwähnt in ihrem Vortrag vor dem Start explizit, dass im «unwahrscheinlichen Falle» eines Absturzes das Handgepäck im Flugzeug verbleiben müsse. Einerseits selbstverständlich. Andererseits würde ich mir schon überlegen, ob ich meinen Rucksack nicht doch mitnehmen sollte. Ich säße dann im Rettungsboot mit den anderen armen Seelen und hätte als einziger Idiot meinen Krempel dabei. Der Hass der Mitleidenden wäre immens, weil ich meine Kekse mit niemandem teilen würde. («Mit mir doch aber!», interveniert meine Partnerin in Gedanken.)

«Guten Tag», begrüßt uns ein mittelalter Mann und setzt sich auf Sitz C am Gang. Er hat eine eng gerollte Zeitschrift dabei, die er ohne Sorgfalt in das Netz im Vordersitz schiebt, wobei einige Seiten irreversibel Schaden nehmen. Dann atmet der Mann unnötig laut aus, als würde er auf sich aufmerksam machen wollen. Als erwarte er, dass wir uns endlich nach seinem Befinden erkundigen. Ich lasse ihn schnaufen und verweile in akuter Lethargie.

5. Juni 2019, 18:30 Uhr

Mit einer halben Stunde Verspätung hebt die Maschine von der Nordbahn 09L/27R ab und erhebt sich in die warme Abendluft. Verlässt den Boden, die Stadt und später das Land. Als wir die Reiseflughöhe erreicht haben, hält der Pilot einen begeisterten Monolog über sein Flugzeug – über diese zauberhafte Wundermaschine, in deren Leib wir sitzen und schwitzen. Anschließend erklärt er dies und das in übertriebener Ausführlichkeit. Wahrscheinlich ist der Pilot objektophil.

Die Flugbegleiterinnen nehmen derweil den Servicebetrieb auf. Getränke, Sandwiches und Snickers sind kostenpflichtig, also teuer. Die Stewardess kommt mit dem fahrenden Kiosk angejuckelt und fährt mir mit Absicht und voller Wucht gegen mein Knie. Ich ertrage den Schmerz tapfer und schweigend, nenne die Frau in Gedanken aber «fiese Mutterfickerin».

«Möchten Sie etwas trinken oder essen, Sir?», fragt die Stewardess ohne der Körperverletzung weitere Aufmerksamkeit zu widmen. Ich lese ihr Namensschild: Julia Sandra.

«Ich hätte gern ein Snickers und einen Kaffee.»

«Lassen sie mich kurz kopfrechnen: Das macht … 90 Millionen Euro.»

«Das Flugzeug wollte ich aber nicht kaufen.»

«Zahlen Sie bar?»

«Selbstredend.»

Ich wollte eigentlich nie Besitzer einer Boeing 737-800 sein.

Das Fliegen ist verkommen zu einer schlechten Busfahrt, die wir sitzend und wartend verbringen

Nach dem Abendessen notiere ich in mein Notizbuch: Das Fliegen ist verkommen zu einer schlechten Busfahrt, die wir sitzend und wartend verbringen. Sitzen und warten, atmen und pinkeln; sitzen und warten, einkaufen und pinkeln. Es hilft, aus dem Fenster zu schauen und das Miniaturwunderland zu betrachten. Zu sehen sind: Landstraßen, Autobahnen, Felder, Gräber, Dörfer und Wälder. Zu sehen sind: Herr und Frau Glombinski, wie sie in ihrem Garten arbeiten. Das Ehepaar investiert viel Zeit in die Pflege ihrer Rasenflächen und Sträucher. Weitere Hobbys: nein.

Gerhard Glombinski mäht jeden Samstag um Punkt 8:00 Uhr den Rasen mit seinem Markenrasenmäher, den er neu hat. Herr G. ärgert sich den ganzen Tag lang, wenn er sich samstags mit dem Mähen verspätet. Schuld daran ist meistens seine Frau Renate Glombinski, die ihn von 7:30 Uhr bis 7:50 Uhr beim Frühstück mit ihren Betrachtungen langweilt und es manchmal schlicht übertreibt mit ihren Ausführungen. (Wie der Pilot bei seinen scheppernden Durchsagen.) Herr Glombinski kann sich jedoch nicht von seiner Frau scheiden lassen: Allein ist er nicht einmal in der Lage, eine Boeing 737-800 zu landen. Nein, er braucht seine Frau wie der Pilot seine Co-Pilotin.

Meine seltsamen Gedanken werden jäh unterbrochen: Die Stewardess erläutert unaufgefordert, dass es heute «sensationelle Sonderangebote» gäbe. Sie werde zeitnah mit dem Verkaufswagen durch das Flugzeug fahren. Es würden satte Rabatte winken. «Heinz, ich werde ein neues Parfüm erwerben, damit ich den ganzen Urlaub lang verführerisch dufte», überlegt eine gewöhnliche Dame laut. Früher war das Fliegen eine aufregende Angelegenheit, heute fühle ich diese Leere und den stechenden Schmerz im Knie.


Faro, Algarve

Landung um 20:31 Uhr Ortszeit. Das also ist Faro, administratives Zentrum der Algarve. «Diese Stadt ist normal», behauptet der Reiseführer nüchtern. Die meisten Passagiere werden lediglich den Flughafen sehen. In großen Bussen werden sie weiterfahren und sich in ihre Hotel-Anlagen bringen lassen, die sich irgendwo da draußen befinden. Unser Ziel ist hingegen: die Altstadt von Faro, das Centro Histórico, wo wir in der Casa d’Amelie übernachten werden – mitten in der Fußgängerzone gelegen.

Landeanflug auf Faro; der Atlantik bis zum Horizont.

Ein Schatten huscht an mir vorbei, ich bin von einem betörenden Duft umgeben. Die Luft auf dem Rollfeld ist kühler als gedacht. Ich bereue, keine Sommerjacke eingepackt zu haben. Es ist windig und die Sonne steht tief. Ein alter Bus bringt uns zum Gate. Dann den Koffer vom Band holen, dann den Mietwagen abholen – doch bei der Autovermietung wollen sie eine Kreditkarte in ihr System einlesen und das System verlangt eine PIN.

«Ich weiß meine nicht!», gesteht meine Partnerin schockiert.

Ich überlege fiebrig: Wie war doch gleich meine Geheimnummer? Es geistern einige Zahlen durch meinen pochenden Kopf, es formt sich eine Abfolge, 1, 7, könnte sein, könnte nicht sein, 9, 8. Doch meine Visa geht dann ohne PIN, anders als die Master Card meiner Partnerin3.

  1. Hat sie eigentlich schon verstanden, dass ich nun Flugzeugbesitzer bin? – «Nein», sagt sie auf Nachfrage.

Die Frau von der Autovermietung – sie wird Magda heißen – will uns noch viele sinnlose Versicherungen aufschwatzen, die wir alle ablehnen und abermals ablehnen und wiederholt ablehnen. Aus Rache hat sie uns dann eine ausgedachte Gebühr auf die Rechnung geschmuggelt, die wir gutgläubig unterzeichnen. Abends wird Mietwagen-Magda ihrem Ehemann nichts davon erzählen, denn das ist ihr Berufsalltag: Touristen irgendeinen Unfug anzudrehen. Ihre Seele ist ein schwarzer Tümpel und ihr Mann will es nicht mehr hören. Es ist bereits Magdas dritter Ehemann – und wahrscheinlich nicht ihr letzter.

21:17 Uhr

Der Fiat 500 lächelt uns schüchtern zu. Wir verlassen den Mietwagenparkplatz und fahren den kurzen Weg vom Aeroporto de Faro rüber nach Faro City. In der Altstadt suchen wir in den engen Straßen verzweifelt eine Parklücke, finden aber nur Autos und Einfahrten. Um 21:48 Uhr stehen wir schließlich in einer Seitenstraße und zweifeln sofort an der Rechtmäßigkeit dieses Parkplatzes. Die Markierungen auf der Straße sind uneindeutig. Vor allem aber ist der Umstand, dass die Lücke noch frei war, zutiefst verunsichernd.

Dann muss er sich das Blut aus dem Gesicht wischen

Ein steinalter Mann schlurft den Bürgersteig entlang, ein Schatten verfolgt ihn, der Mann lächelt nicht. Wir fragen ihn, ob er glaubt, dass unser Auto hier ordnungsgemäß abgestellt ist: «Can we park here? Aqui, aqui?» Der Mann bleibt stehen, verschnauft und atmet schwer, ignoriert aber letztendlich unsere simple Frage – es ist ja nicht so, dass wir ein mehrseitiges Gutachten von ihm verlangen. Nach einer halben Minute setzt der Greis seinen Weg hustend fort und verschwindet um die Straßenecke. Er war der letzte Mann für heute.

Woanders gibt es einen großen Parkplatz für Touristen, dorthin werden wir das Auto später bringen, beschließen wir. (Auf diesem endlosen Besucherparkplatz läuft ein spindeldürrer Mann in Warnweste herum und weist Autos ein. Kassieren darf er nicht – das Parken ist hier kostenlos. Eigentlich. Für den «Service» bekommt er aber Trinkgeld, zumindest hofft er darauf. Ein paar Münzen, hin und wieder vielleicht sogar ein Lächeln. Manchmal wird der Mann von Möwen attackiert, dann muss er sich das Blut aus dem Gesicht wischen, denn die Autofahrer vertrauen keinem, dem Blut über die Wangen läuft und der Geld verlangt.)

Ein Herz für Faro, in Faro.
Wo bin ich hier eigentlich? Ach ja: in Faro.

Google Maps führt uns ohne Umwege in die Fußgängerzone von Faro. An einer unscheinbaren Tür in der Wand klingeln wir. Unsere Gastgeberin Laetitia ist noch beim Training, also lässt ihre Mama uns ins Haus. Sie kann kaum Englisch, wir verstehen aber trotzdem, wo welche Schränke und Schubladen verborgen sind. Die Wohnung ist modern und schick eingerichtet; viel Holz, viel Weiß, alles maßgeschreinert. (Die Dusche aber ist nicht richtig dicht und meine Partnerin hält plötzlich den Türgriff vom Badezimmer in der Hand. «Ich habe den Griff ganz normal nach unten gedrückt», erklärt sie in einer eilig notierten Pressemitteilung.)

Die Geister, die Jahrzehnte hier lebten, ließen sich vom Baulärm vertreiben

Unsere Wohnung befindet sich in der Casa d’Amelie, in der es weitere Ferienwohnungen gibt. Das Haus ist Ergebnis eines Sanierungsprojekts, das neues Leben in ein altes Haus brachte, das 40 Jahre leer stand und verfiel. Die Geister, die Jahrzehnte hier lebten, sind verschwunden; sie ließen sich vom Baulärm vertreiben. Unsere Gastgeberin arbeitet als Anwältin in der Stadt, nebenbei kauft sie alte Häuser und richtet sie her. Andere sitzen als Hobby eher sinnlos im Garten und grämen sich der Geräusche, die der Nachbar mit seinem Markenrasenmäher veranstaltet. L. hingegen ist eine Macherin, geschäftig und vielbeschäftigt.

Tasca do João

Trotz später Stunde (= 22:35 Uhr) haben wir noch ein bisschen Hunger, also lassen wir uns von L. ein gutes Restaurant für Kleinigkeiten empfehlen: Sie schickt uns in ihr Lieblingslokal, in die Tasca do João am Largo do Pé da Cruz. Hier sitzen wir und dippen Brot und Mini-Zwieback in Olivenöl. Es ist kurz vor 23 Uhr, als ich an einer geschrumpften Bierflasche nippe, an einem Sagres Mini (250 ml). Ich hatte beim Chef diffus «una cerveja» bestellt, ohne eine ergänzende Bemerkung. Er brachte mir daraufhin diese winzige Flasche, die ich ohne Protest annahm. Vielleicht hat der Chef mir angesehen, dass ich nicht viel vertrage.

Viel los ist in der Tasca nicht. Außer uns ist noch ein weiteres Liebespaar anwesend sowie zwei Japanerinnen, die schräg hinter uns am Nebentisch plaudern und Wein in winzigen Schlucken schlürfen. Später werden sie sich gegenseitig ablecken. Auch zwischen die Fußzehen dringen ihre Zungen. Der Chef wird das schulterzuckend hinnehmen.

Später kommt L. vorbei, grüßt den Chef, umarmt ihn, küsst ihn, und setzt sich schließlich zu uns. Sie will uns unbedingt mit Tipps für den morgigen Tag versorgen, sie ist in dieser Hinsicht sehr gewissenhaft. Undenkbar, dass wir uns womöglich noch langweilen. Wir sollen unbedingt eine «Walking Tour» machen, um ein bisschen was über die Stadt zu erfahren, meint L. Dann muss sie weiter, ihre Hündin wird ungeduldig. Das Tier steht vor dem Lokal und schaut ungeduldig durch die Glastür. Die Hündin heißt Amelie, nach ihr ist die Casa, in der wir wohnen, benannt. Amelie pflegt stets um diese Uhrzeit ein üppiges Schaumbad zu nehmen. So soll es sein.

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